Krausser ist ein Phänomen. Mehr als zwanzig Romane und Erzählungsbände hat dieser 1964 geborene Autor bereits vorgelegt - alles literarische Schwergewichte, hinzu kommen jede Menge Tagebücher, Gedichtbände, Hörspiele und Theaterstücke. Auch als Komponist klassischer Musik ist Helmut Krausser bekannt. Ein Genie. Ein Alleskönner. Im Schach brachte er es bis zum Oberbayerischen Meister, wie man bei Wikipedia nachlesen kann. Und trotzdem erfährt dieser Autor nicht (oder nicht mehr) die Anerkennung in der literarischen Öffentlichkeit, die ihm zweifellos gebührt. Literaturpreise? Fehlanzeige.
Sein Opus magnum schrieb Helmut Krausser bereits mit 28 Jahren: den fast 900 Seiten starken Wälzer MELODIEN. Dabei ist dieses Buch vielleicht nicht einmal sein bestes, denn es wirkt ein bisschen steril und unterkühlt. Besonders die Personen der Gegenwartsebene sind etwas blass geraten. Warum ist das Buch trotzdem eine Empfehlung wert? Wegen des Plots, denn der hat es wahrlich in sich.
Wie in vielen anderen Thriller- und Abenteuerromanen, so geht es auch in diesem Buch um nichts geringeres als um Macht, genauer: es geht um ein Mittel, mit dem man den Menschen im Guten wie im Bösen gegen seinen Willen manipulieren kann. Bei Süskind war es der Geruch des Parfüms, bei Eco das Universalwissen zwischen den Buchdeckeln verstaubter Folianten einer mittelalterlichen Klosterbibliothek. Bei Krausser ist es die Musik, genauer 23 kurze Melodien, so genannte Tropoi, ersonnen von dem Magier Castiglio, einem gescheiterten Alchemisten, geboren 1530 zur Zeit der italienischen Hochrenaissance. Castiglio glaubt die Urmusik gefunden zu haben, die Übertragung der Vox Dei, der Stimme Gottes, ins menschliche Notensystem. Jeder dieser hypnotisierenden Melodien ist eine bestimmte Funktion zugeordnet: wie man eines Geizigen Faust lockere, wie man weinlos trunken mache, Wunden schneller heilen lasse und in einem Menschen Liebe wecke. Castiglio träumt bereits von einer neuen Weltordnung: (...) sie (die Tropoi) werden den Erdkreis erobern und erlösen, in Einklang bringen und Gerechtigkeit schaffen! Dann wird die Erde ein Fest sein. Doch Castiglio wird an diesem Fest nicht mehr teilnehmen können. Er bezahlt seine grandiose Entdeckung mit dem Leben. Und die Tropoi? Einige scheinen verloren, andere geistern fortan als Mythos durch die Kulturgeschichte Europas. Immer wieder sollen sie Eingang gefunden haben in die Geschichte der Musik, etwa als Bestandteil von Leben und Werk des Madrigalkomponisten Carlo Gesualdo, des frauenhassenden Kastraten Pasqualini, bis hin zu Palestrina, Monteverdi und Allegri. Im 20. Jahrhundert verliert sich die Spur der Melodien. Bis Krausser den jungen Fotografen Alban Täubner im Hier und Jetzt auf die Suche schickt.

Kraussers Roman ist fabelhaft recherchiert. Jedes Detail passt. Wie viele hundert Stunden mag er in Bibliotheken zugebracht haben? Ähnlich wie Eco scheint auch Krausser das Mittelalter mehr zu liegen als die Gegenwart, denn seine stärksten Passagen hat der Roman, wenn es um die Biographie des Komponisten Gesualdo und die des mordenden Kastraten Pasqualini geht. Hier schöpft Krausser aus dem Vollen. Hier entwickelt er eine meisterliche Sprachgewalt, die einen Sog entwickelt, dem man sich kaum entziehen kann.

Neben Harry Mulischs DIE ENTDECKUNG DES HIMMELS waren für mich Kraussers MELODIEN das literarische Ereignis des Jahres 1993. Wer mehr von dem Autor Helmut Krausser lesen möchte, dem sei die Hagen-Trinker-Trilogie empfohlen, speziell FETTE WELT, eine Geschichte aus dem Pennermilieu, in die Krausser mehr Herzblut hat einfließen lassen als in die blasse Gestalt des Alban Täubner, oder auch NICHT GANZ SCHLECHTE MENSCHEN aus dem Jahr 2012.
Im August 2015 erschien der Roman ALLES IST GUT. Darin spinnt Krausser das Grundmotiv “manipulative Musik” aus MELODIEN weiter.
 

Links:

Wikipedia

 

Fanseite von Bernd Pleis

 

DER SPIEGEL 1993

 

der Komponist Helmut Krausser

 

Literaturport