Ehrlich gesagt, ich hätte ihn gern zum Freund gehabt. Oder, frage ich mich, wäre ich vielleicht sogar ganz gern er selbst? Na ja, manchmal vielleicht. Sein Name ist Ilja Iljitsch Oblomow, zweifellos der faulste und zugleich liebenswerteste Mensch, der je von einem Dichter erfunden wurde. Nur wenige Figuren der Weltliteratur sind so populär geworden wie er. Und wodurch? Durch Nichtstun. Noch heute ist in Russland „oblomowtschina“ das Synonym für (liebenswürdige) Faulheit.

Oblomow, gerade 32 Jahre alt, hat den Staatsdienst quittiert und sich in den ‚Ruhestand’ versetzen lassen. In seiner Petersburger Stadtwohnung liegt er nun tagein tagaus auf dem Diwan, umsorgt von seinem treuen Diener Sachar und gibt sich idealistischen Grübeleien hin. Sein Tagesablauf besIwan Gontscharow (1812-1891)teht aus Schlafen, Essen, Teetrinken und wieder Schlafen. Doch Oblomow hat große Pläne. In seinem Innern „tobt ein Vulkan“. (Gontscharow) Er will die soziale Lage seiner Dienstboten verbessern und er will sein Landgut zu einem agrarwirtschaftlichen Musterbetrieb ausbauen. Dazu müsste er hinfahren, sich mit dem Verwalter treffen, doch zuerst einmal müsste er seinen Brief beantworten. Wenn er sich doch nur einmal aufraffen könnte! Wir lesen Seite 11, oben: Er hatte sich gleich beim Erwachen vorgenommen, aufzustehen, sich zu waschen und, nachdem er Tee getrunken haben würde, gründlich nachzudenken, manches in Erwägung zu ziehen, zu notieren, sich überhaupt der Sache ganz zu widmen. Er lag eine halbe Stunde lang da und quälte sich mit diesem Vorsatz ab; doch dann überlegte er sich, daß er dies alles auch nach dem Frühstück tun konnte, und das er den Tee wie immer liegend trinken könnte, um so mehr, als diese Stellung zum Nachdenken nicht minder geeignet war. So tat er denn auch. Nach dem Tee aber richtete er sich auf seinem Lager auf  und wäre beinahe aufgestanden; ja er hatte sogar begonnen, auf die Pantoffeln blickend, den einen Fuß vom Bette zu ihnen herabgleiten zu lassen; doch gleich darauf zog er ihn wieder zurück.

Das Gegengewicht zum faulen Oblomow finden wir in Stolz, seinem deutsch-stämmigen Freund. Stolz ist Geschäftsmann, kraftvoll und voller Tatendrang. Aber auch ihm gelingt es nicht Oblomow aus seiner Lethargie zu wecken. Ebenso wenig wie Olga. Sie hat sich in Oblomow, der nicht hässlich ist, verliebt. Aber auch sie scheitert an seiner Tatenlosigkeit und vermählt sich schließlich mit Stolz. Am Ende heiratet Oblomow die einfältige Agafja Pschenizyna, die ihn wie eine Mutter umsorgt und ihn somit des letzten Ansporns beraubt, sich vom Diwan zu erheben.

Der Roman wird bestimmt durch Reflexionen und lange Dialoge. Eine wirkliche Handlung findet nicht statt. Das erste Drittel des Romans beschäftigt sich mit dem Geschehen eines einzigen Tages. Mit dem neunten Kapitel hat Gontscharow gar eine Rückblende auf Oblomows Kindheit auf dem väterlichen Gut Oblomowka eingeschoben, die seither zu recht unterschiedlichen Interpretationen Anlass gibt. Wie Sie sehen, ist dies kein Roman für Action-Fans. Wie ist es dem Autor nun gelungen, trotzdem eine spannende und durchaus fesselnde Geschichte zu erzählen? Barbara Sichtermann sagt: „Dank der außerordentlichen Kunst seines Schöpfers Gontscharow liest man Oblomows Geschichte mit großer Anteilnahme: Der Schriftsteller entfaltet mit psychologischer Finesse, mit bestrickendem Humor und einer schlichten, sich in die Figuren gleichsam einschleichenden Charakteristik die russische Seele in all ihren Facetten vor dem faszinierten Leser. Wer mit Oblomow nicht mitgeht, der ist für die Romankunst verloren (...).“ (aus: Joachim Scholl, Barbara Sichtermann: 50 Klassiker Romane vor 1900. Copyright © 2002, Gerstenberg Verlag, Hildesheim) Die viel zitierte ‚russische Seele’, da ist sie wieder. Natürlich wollte Gontscharow mehr als einen Unterhaltungsroman schreiben. Natürlich wollte er seinen Zeitgenossen den Spiegel vorhalten. Russland befand sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in einer Phase der gesellschaftlichen Umwälzung. Wollte er in der Person des Oblomow die feudale Adelsgesellschaft Russlands porträtieren? Der Schriftsteller Hans J. Fröhlich hingegen sieht in Oblomows Beharrungsvermögen weniger ein konservatives Element, sondern eher die Ursache einer nie vollzogenen Ablösung von der mütterlichen Welt: „Oblomows Problem ist nicht das Phlegma, sondern seine Infantilität.“ Für ihn ist Oblomow ein Aussteiger, ein Verweigerer. Weiter heißt es: „Um zu wissen, was das oblomowsche Lebensgefühl ist, nicht was es bedeutet, und wofür Oblomow steht, muss man diesen Roman lesen, Seite für Seite und mit der gleichen Kontemplation, mit der er geschrieben wurde. Weshalb ich denn auch bitte, diesen Hinweis auf Gontscharows OBLOMOW als Einladung zum Lesen zu verstehen.“
Dem ist nichts hinzuzufügen, außer: viel Vergnügen.
 

Links:

Wikipedia (Gontscharow)

 

• Wikipedia (Oblomow)

 

• Zeit online

 

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