Welcher unter den fünf Großromanen Dostojewskis ist der lesenswerteste? Vielleicht DIE DÄMONEN oder DIE BRÜDER KARAMASOW? Möglicherweise, doch leider zählen gerade diese, auf Grund ihrer vielschichtigen Handlung zu den schwierigsten. Erschwerend kommt bei Dostojewski, wie bei vielen russischen Autoren - angefangen bei Puschkin über Gogol und Tolstoi bis hin zu Autoren unserer Zeit - die verwirrende Vielfalt der Personen und Namen hinzu. Da gibt es den Vor-, Familien- und Vatersnamen und darüber hinaus noch den Kosenamen: zum Beispiel: Fjodor Michailowitsch Dostojewski, genannt Fedja. Für den Leser scheint es daher ratsam, sich ein Personenverzeichnis anzulegen (hab’ ich bei Dostojewski fast immer gemacht) um nicht irgendwann den Überblick zu verlieren und hilflos im Text stecken zu bleiben. Das wäre nämlich schade, denn gerade bei den Romanen DIE DÄMONEN und DIE BRÜDER KARAMASOW handelt es sich um wirklich dicke Schinken: 750 und 1150 Seiten.

Dick ist auch VERBRECHEN UND STRAFE bzw. SCHULD UND SÜHNE, wie man den Titel bisher übersetzt hat (Dank an die unermüdliche Übersetzerin Swetlana Geier), vielleicht der bekannteste der großen Romane Dostojewskis. Die Handlung hier ist aber nicht ganz so vielschichtig und das Personal nicht ganz so umfangreich wie bei den anderen. Hier kommt man glücklicherweise ohne Personalliste aus. Außerdem hat VERBRECHEN UND STRAFE einen sehr eingängigen Plot; handelt es sich doch dabei um einen waschechten Kriminalroman. Trotzdem, die Grundzüge der Weltanschauung Dostojewskis, wie er sie in seinen späteren Werken in brillanter Weise darlegt hat, sind auch hier - und gerade hier - schon vorhanden. So zählt für mich VERBRECHEN UND STRAFE nicht nur zu den lesenswertesten, sondern auch zu den verständlichsten Romanen Dostojewskis.

Rodion Raskolnikow ist 23 Jahre alt und Student der Rechte. Verarmt und mittellos lebt er bei einer alten Pfandleiherin zur Untermiete in einem kleinen, schrankartigen Zimmer. Seinem Weltbild nach teilt er die Menschheit in zwei Kategorien ein, in das “Material” und die “Auserwählten”. (Friedrich Nietzsche wird später sagen: „Dostojewski war der erste wahre Psychologe, von ihm habe ich viel gelernt.“) Letztere sind die Übermenschen, von denen die Veränderung ausgehFjodor Michailowitsch Dostojewski (1821-1861)t, ihnen ist es gestattet, “lebensunwertes” Leben zu vernichten um “lebenswertes” zu erhalten und zu fördern. Raskolnikow glaubt: Wenn ich diese alte, nutzlose, allgemein verhaßte Wucherin töte, eine, die nicht mehr wert ist als eine Laus, so ist das kein Verbrechen, sondern ein Beweis dafür, dass ich zu den Auserwählten gehöre, die sich um Gesetze nicht zu scheren brauchen; im Übrigen: Gott ist tot, es gibt kein Jüngstes Gericht, folglich auch keine Beschränkung der Moral. Rodion Raskolnikow führt sein Vorhaben aus. Mit einem Beil erschlägt er die alte Frau und auch deren Schwester, die ihn beobachtet hat. Die Tat gelingt, auch die Flucht. Raskolnikow bleibt unerkannt. Doch zurück in seinem Zimmer meldet sich die innere Stimme. Er muss erkennen, dass er dem Druck seines Gewissens nicht gewachsen ist. Das Martyrium beginnt. Doch am Ende eines langen Leidensweges wartet schließlich auch auf Rodion Raskolnikow die Absolution. Er offenbart sich der Prostituierten Sonja, die ihn durch ihre Liebe und ihren Glauben auf den rechten Weg zurückführt. Er gesteht die Tat und sühnt seine Schuld in der Verbannung, wohin ihm Sonja folgt. In der Person Sonjas spiegelt sich Dostojewskis eigene Weltanschauung, nämlich die Erlösung durch die Liebe und die Hinwendung zu christlichen Idealen.

Schon das Leben des Autors Fjodor Michailowitsch Dostojewski wäre ein Roman wert. Wer sich ein wenig mit dessen Biographie beschäftigt hat, wird die wichtigsten Eckdaten kennen: die Begnadigung auf dem Richtplatz (Stefan Zweig hat darüber in seinem Band STERNSTUNDEN DER MENSCHHEIT eine hübsche Erzählung verfaßt), die Verbannung nach Omsk und seine zwanghafte Spielsucht.           Als der 44-jährige Dostojewski im Jahr 1865 mit der Niederschrift des ersten seiner fünf großen Romane beginnt, befindet er sich in einer äußerst trostlosen Lage. Erst zwei Jahre zuvor, während seiner zweiten Auslandsreise, hat er in den Spielcasinos von Wiesbaden und Baden-Baden ein Großteil seines Vermögens verloren. Nach seiner Rückkehr nach Russland stirbt seine Frau Marja Dimirijewna an der Schwindsucht und er trägt fortan die Verantwortung für deren 17-jährigen Sohn Pascha. Kaum zwei Monate später stirbt auch sein geliebter Bruder Michail, um dessen Frau und deren fünf Kinder er sich fortan kümmern muss. In einem Brief an seinen Freund Baron Wrangel beklagt Dostojewski sein Leid: “Mein ganzes Leben ist entzweigebrochen. In der einen Hälfte, die ich nunmehr überschritten habe, war alles, wofür ich lebte, in der anderen dagegen, in der noch unbekannten Hälfte, ist alles fremd, alles neu für mich, und kein einziges Herz, das mir diese beiden ersetzen könnte. Ganz wörtlich genommen: ich habe gar nichts mehr wofür ich leben sollte.” Schon bald muss die von Dostojewski und Michail gegründete Zeitschrift ‘Epocha’ (vormals ‘Vremja’ [Die Zeit]) ihr Erscheinen wegen völliger Überschuldung einstellen. Dostojewski bleibt auf einem Schuldenberg von 15.000 Rubel sitzen. In der Folgezeit gerät Dostojewski immer tiefer in die Fänge dubioser Geldverleiher. Ausgestellte Wechsel kann er nicht einlösen. Über ihm hängt das Damoklesschwert des Schuldgefängnisses. Zu alledem ist sein Gesundheitszustand seit seiner Verbannung nach Omsk und seiner Zeit als Soldat in Semipalatinsk stark angeschlagen. Dostojewski leidet an Hämorrhoiden, dazu quälen ihn seit Jahren epileptische Anfälle. Zu allem Unglück verzehrt sich Dostojewski auch noch in einer stürmischen Leidenschaft zu der emanzipierten, intellektuellen Polina Suslowa. Ganz zu schweigen von den Sorgen um seinen trunksüchtigen Bruder Nikolaj und den schmarotzerhaften Stiefsohn Pascha. Dies etwa ist die Situation, in der sich Dostojewski zu einem folgenschweren Schritt genötigt sieht. Er unterzeichnet dem zwielichtigen Spekulanten Stellowskij einen Knebelvertrag, wonach diesem die Verlagsrechte an all seinen bisherigen Werken zustehen. Außerdem: Sollte Dostojewski nicht bis zum 1. November 1866 einen neuen Roman abliefern, würde Stellowskij das Recht an allen zukünftigen Werken Dostojewskis zufallen, ohne daß dieser zu Honorarzahlungen verpflichtet wäre. Aus diesem ‘Vertrag’ steht Dostojewski die lächerlich geringe Summe von 3.000 Rubel zu.
Nachdem Dostojewski die hartnäckigsten Schuldner abgefunden hat, verbleiben ihm gerade einmal 175 Rubel. Man muss wohl nicht erwähnen, dass sich Dostojewski sogleich auf den Weg nach Wiesbaden macht, um erneut sein Glück am Roulettetisch zu versuchen. Doch auch diesmal spielt er sich um Kopf und Kragen. (In Wiesbaden kommt es übrigens zum legendären Zerwürfnis mit Iwan Turgenjew, der ihm statt der gewünschten 100 Rubel nur 50 leiht.) Immerhin beginnt Dostojewski in Wiesbaden mit der Niederschrift eines neuen Romans mit dem Arbeitstitel DER TRINKER. (Zunächst war der Trinker Marmeladow als Hauptfigur vorgesehen.) Zurück in Petersburg gelingt es ihm, das fertige Werk an den Herausgeber des ‘Russischen Boten’ zu verkaufen. Die Veröffentlichung beginnt im Januar 1866 - zehn Monate vor Ablauf des Ultimatums - unter dem Titel SCHULD UND SÜHNE.

So hat es sich auch hier wieder bewahrheitet, dass es nämlich oft gerade widrige, äußere Umstände sind, die den notwendigen Leidensdruck erzeugen, unter dem die ganz große Literatur entsteht.

 

 

Links:

sehr ambitionierte und umfassende Darstellung zu Leben, Werk und
   Person Dostojewskis

 

Dostojewski-Gesellschaft

 

Dostojewski: Psychologe, Erzähler, Russe

 

Dostojewskijs ”Die Brüder Karamasow

 

Dostojewski im Projekt Gutenberg.de

 

• Kurzbiographie Dostojewskis

 

• Wikipedia

 






• Wer sich für die Reisen Dostojewskis
   interessiert, findet hier eine
   Übersicht im pdf-Format:














• Und hier gibt es einen groben
   Überblick über den Stammbaum
   Dostojewskis,
   ebenfalls im pdf-Format: