Kennen Sie den? Eine Frau (es darf auch ein Mann sein) in einem Buchladen erkennt ihre Lieblingsserie im Fernsehen wieder. Erstaunt ruft sie aus: „Schau mal, die Buddenbrooks, jetzt gibt’s das auch schon als Buch.“ - Lustig, nicht wahr, aber irgendwie kann man die Frau ja auch verstehen. Viele Werke der Weltliteratur, besonders die Abenteuerromane, haben die meisten von uns zunächst einmal vor der Flimmerkiste sitzend kennen gelernt: Die drei Musketiere,Daniel Defoe (1660-1731) Der Graf von Monte Christo, Die Schatzinsel, Der Seewolf (mit dem Kartoffeln zerquetschenden Raimund Harmsdorf) und natürlich ROBINSON CRUSOE. Dabei war Daniel Defoe 1719 weit davon entfernt ein Jugendbuch zu veröffentlichen und schon ganz und gar keinen Abenteuerroman. Der Journalist Defoe verstand das Schreiben als „... Möglichkeit, aktuelle Zeitfragen politischer, sozialer und moralischer Natur zu erörtern.“ (Harenberg Buch der 1.000 Bücher) Vorbild für ROBINSON CRUSOE waren die Berichte über den Seemann Alexander Selkirk, der auf der Pazifikinsel Juan Fernandez ausgesetzt und nach viereinhalb Jahren von Kapitän Woodes Rogers gerettet wurde, sowie die Abhandlung HISTORICAL RELATION OF CEYLON von Robert Knox, der 19 Jahre in völliger Isolation als Gefangener auf Ceylon verbracht hatte. Mit seinem Roman wurde der sechzigjährige Defoe im England des frühen 18. Jahrhunderts auf einen Schlag berühmt und in London setzte so etwas wie ein Robinson-Fieber ein.

Bis heute ist der Ruhm des einsam Gestrandeten ungebrochen und der Name Robinson steht für eines der großen, zeitlosen Leitbilder der Weltliteratur. Obwohl selbst schon zur Gattungsbezeichnung geworden ist der ROBINSON CRUSOE jedoch eines nicht: eine Robinsonade, da Crusoe auf seiner Insel „keine alternative Lebensform entwickelt, sondern die europäische Zivilisation nachzubauen versucht.“ (Harenberg Buch der 1.000 Bücher) Schaut man sich heute in der Sekundärliteratur um, wird man überhäuft von einer Fülle von Interpretationen: die Rechtfertigung des Kolonialismus (Crusoe bringt dem Eingeborenen Freitag die Zivilisation bei), die Ökonomie (Crusoe als der Prototyp des aufsteigenden Unternehmers), die religiöse Interpretation (Crusoe schildert seine Hinwendung zu Gott), die Unterwerfung der Natur (Crusoe zeigt was Tat- und Willenskraft erreichen können). - Christiane Zschirnt reiht den Robinson in ihrem Buch „Bücher, alles was man lesen muss“ gar im Kapitel ‚Wirtschaft’ ein, weil sie im Leben des Schiffbrüchigen eine Allegorie auf das wirtschaftliche Scheitern seines Verfassers sieht. - Auch der erhobene Zeigefinger fehlt nicht: Seht, was mit mir geschehen ist, da ich nicht auf meine Eltern hörte. Im übrigen ist ROBINSON CRUSOE als Jugendbuch bestens geeignet. Es ist völlig frei von jeder (offenen) Erotik. Man kann all das aber auch vergessen und den Roman lesen als das, was er nämlich unter anderem auch ist: ein verdammt gutes Seefahrer- und Abenteuerbuch.

PS: Als ich meinem damals achtjährigen Sohn aus ROBINSON CRUSOE vorlas, wurde mir wieder einmal klar, wie wichtig den Menschen im 18. Jahrhundert eine umfassende Wehrhaftigkeit ihrer Person und ihres Hauses gewesen sein muss. Defoe lässt seinen Protagonisten über Jahre an der Ausstattung seiner Wohnhöhle arbeiten, bis diese mit ihren drei Palisadenzäunen eher einem Fort als einer Wohnung gleicht. Und wenn Robinson am menschenleeren Strand seiner verlassenen Insel spazieren geht, führt er so viele Waffen mit, dass er kaum laufen kann. Mein Sohn und ich haben uns darüber köstlich amüsiert.
 

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Defoe-Biographie

 

Werk, Biographie und Links

 

• Infos zur Veröffentlichung von “Robinson Crusoe

 

• Kurzbiographie und Inhaltsangabe des “Robinson Crusoe

 

Inhalt und Kommentar von Dieter Wunderlich