Als Aleksandar Tišma 1987 mit KAPO das letzte Buch seines „PENTATEUCH“ vorlegte, muss eine schwere Last von ihm gefallen sein: die Last des Erinnerns. Er sei nicht mehr besorgt, sagte er, denn: „Ich habe das Gefühl alles gesagt zu haben (...) die Bücher sind geschrieben und jetzt bin ich ein anderer Mensch.“

Tišmas Romane und Erzählungen spielen in der serbischen Teilrepublik Vojvodina, insbesondere in deren Hauptstadt Novi Sad - Tišmas Heimat. Seit Jahrhunderten ist Novi Sad ein Schmelztiegel für Angehörige verschiedenster Volksgruppen und Religionen: Serben und Kroaten, Deutsche und Ungarn, Juden und Moslems. Die deutsche Besatzung in den Jahren 1941 bis 44 zerstörte die Grundlage für ein friedliches Zusammenleben und brachte unendliches Leid über die Bevölkerung. Der 1924 geborene Tišma machte sich zum Chronisten dieses Leids. Seine Themen sind die Schrecken des Krieges und die Auswirkungen der totalitären Gewalt auf die Menschen, auch über die Zeit des Krieges hinaus.

Inzwischen, so scheint es, sind die Namen Tišma und Novi Sad ebenso eng miteinander verbunden wie die Namen James Joyce und Dublin. In der Tat gibt es sogar einige Parallelen zwischen dem Ulysses und Tišmas erstem Roman, dem 1971 erschienenen DAS BUCH BLAM.

Über die scheinbare Namensgleichheit der jeweiligen Protagonisten hinaus (bei Joyce heißt der Held Bloom, bei Tišma Blam), sind beide Personen Juden und beide mit schwermütigen Gedanken in ihren Städten unterwegs. Doch Miroslav Blam aus Novi Sad trägt das weitaus schwerere Schicksal. Er erinnert sich an jüdische Freunde, seine Schwester, seine Eltern, an Verwandte, die das Grauen des Krieges nicht überlebt haben. Blam ist einer der wenigen, die der Zufall von Razzien, Deportationen und Exekutionen verschont hat. Sein Davongekommensein ohne erkennbaren Grund erfüllt ihn mit todessüchtiger Scham. Der zweite Roman des „PENTATEUCH“ erschien 1976: DER GEBRAUCH DES MENSCHEN. Hier erzählt Tišma wie der Mensch den Menschen als Objekt missbraucht. Die Geschichte dreht sich um vier Personen in Novi Sad. Sie alle werden in den Strudel des Krieges gerissen und müssen erkennen, „wie dünn die Linie zwischen Leben und Tod ist und wie leicht es ist, sie zu überschreiten. Es gibt keine Sieger, nur Erniedrigte und Beleidigte, denn auch die, die überlebt haben, leben nur eine geliehene Existenz.“ (Klappentext) DIE SCHULE DER GOTTLOSIGKEIT, erschienen 1978, ist ein schmaler Band mit vier Erzählungen. Auf nüchterne aber schonungslose Weise macht uns Tišma hier mit Menschen bekannt, die das Schicksal in ungeahnte Extremsituationen geführt hat. In „Die schlimmste Nacht“ starrt ein Familienvater unentwegt auf die Uhr. Am nächsten Morgen sollen er, seine Frau und seine Tochter in ein (Vernichtungs-)Lager deportiert werden. In seinem Kopf überschlagen sich die Gedanken. Doch die Situation ist aussichtslos. Er weiß, die Zeit ist abgelaufen. Die eindrucksvollste der vier Erzählungen ist zweifellos die Titelgeschichte. In ihr sehen wir das Psychogramm eines Folterers, der einen jungen Mann zu Tode quält, während zu Hause sein eigenes Kind im Sterben liegt. Auch das vierte Werk in Tišmas Zyklus TREUE UND VERRAT (1983) spielt in Novi Sad. Die Zeit der Handlung ist das Jahr 1962. Damit ist TREUE UND VERRAT das Buch mit dem Tišma am weitesten in die Nachkriegszeit vordringt. Tišma erzählt von Menschen, die auf verschiedene Weise mit sich unglücklich sind. In Rückblenden und Erinnerungen erfahren wir, dass alle Schicksale vom Krieg geprägt wurden. Als Aufhänger dient dem Autor die Geschichte von Sergije Rudic, der gleich mehrfach in einen Interessenkonflikt gerät, als er seinen Eltern helfen soll, deren Wohnung per Gerichtsbeschluss an eine Deutsch-Österreicherin gefallen ist. Mit dem Buch KAPO rundete Aleksandar Tišma 1987 den fünfteiligen Romanzyklus ab und schlug gleichzeitig einen Bogen zurück zu seinem ersten Werk. Denn in gewisser Weise kann man KAPO als das Gegenstück zu DAS BUCH BLAM betrachten, da Tišma hier nicht von Opfern des Holocaust berichtet, sondern das Psychogramm eines Täters bzw. Mitläufers konzipiert. Der Jude Vilko Lamian überlebt das Vernichtungslager Auschwitz, indem er in der Funktion eines Werkstatt-Kapos selbst zum Rädchen in dem mörderischen System des Lagers wird. Nach dem Krieg stößt er durch Zufall auf die Spur eines seiner Opfer, einer Frau, die er sich im Lager durch kleine Zuwendungen von Nahrungsmitteln sexuell gefügig machen konnte. Ergriffen von den Erinnerungen an seine Untaten macht er sich auf die Suche nach dieser Frau. Doch die Absolution bleibt ihm versagt. Die Frau ist kurz zuvor gestorben. Neben DAS BUCH BLAM ist KAPO wohl das eindrucksvollste der fünf Bücher des „PENTATEUCH“. „Die kalte Präzision, mit der Tišma in dem Buch die Ausweglosigkeit einer entmenschlichten Welt aufzeigt, hat Kritik und Leserschaft gleichermaßen beeindruckt. Verantwortlich dafür ist wohl die Ahnung, dass man sich in KAPO, diesem an Düsternis und Pessimismus kaum zu überbietenden Roman, jener Hölle nahe wähnt, die mit dem Wort Auschwitz verbunden ist.“ (Rolf Fischer, Harenberg - Das Buch der 1.000 Bücher)

Die Romane und Erzählungen Aleksandar Tišmas bestechen durch eine einfache und klare Sprache. Der Autor will weder anklagen noch verurteilen. Deshalb verzichtet er auf jedes Pathos, jede Sentimentalität. Sein Ton ist leise und undramatisch und gerade deshalb so erschütternd. Ein Auszug aus DAS BUCH BLAM, Seite 172: Ein Gendarm half ihr aufstehen und stützte sie, sie gingen über den Hof bis zum Gartenzaun, dort mussten sie wieder antreten wie eben auf der Veranda. Die Gendarmen traten ein paar Schritte zurück und zielten. Drei Schüsse knallten: der Junge und das jüngere Mädchen stürzten zu Boden; dann noch einmal drei, und die Mutter fiel zusammen mit der älteren Tochter, die sie an sich gedrückt hatte. Der Oberleutnant trat näher, drehte mit dem Fuß jeden einzelnen auf den Rücken, stellte fest, dass sie tot waren; er befahl, ihre Leichen zum Haustor zu schleppen, damit die Sammelpatrouille sie später leichter fand, und dann tat er die Dokumente der alten Frau zu den anderen und übergab vor dem Haus alles dem Reservisten zwecks Eintragung in die Liste. Solche Chronisten braucht die Literatur, nein besser: solche Chronisten braucht die Menschheit. Die Menschheit zu belehren war jedoch nie Tišmas Absicht. Offensichtlich hatte er wenig Vertrauen in den Zivilisationsprozess. Für ihn war Gewalt etwas durchaus natürliches: „Ich sehe im Menschen nur die Manifestation der lebenden Materie. Und beim Lebendigwerden oder Lebenzeugen, bei der Nahrungsbeschaffung und bei der Fortpflanzung ist die Gewalt offensichtlich anwesend. Vielleicht ist sie sogar der wichtigste Faktor der Reproduktion des Lebens.“ Die Ereignisse der letzten Jahre auf dem Balkan haben ihm wohl Recht gegeben.

Am Sonntag, den 16. Februar 2003 ist Aleksandar Tišma in seiner Heimatstadt Novi Sad gestorben.
Im März 2021 erschien erstmals die deutsche Übersetzung der Autobiographie ERINNERE DICH EWIG im Verlag Schöffling & Co.
 

Links:

“Das Buch Blam” bei WIKIPEDIA

 

Aleksandar Tišma bei WIKIPEDIA

 

Rezension im DLF zu “Erinnere dich ewig”

 

Nachruf in der FAZ vom 17.02.2003

 

Tišma bei Hanser

 

Laudatio auf Aleksandar Tišma von Sigrid Löffler